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Belletristik

Wenn unsere Welt zerspringt – Samira Sedira

Hallo ihr Lieben, nach Beenden von »Wenn unsere Welt zerspringt« von Samira Sedira, habe ich ein paar Tage gebraucht, das Gelesene einzuordnen und mich noch einmal mit dem auseinanderzusetzen, was im Buch geschah. Denn es ist keine leichte Kost, mit welcher die Autorin ihre Leser:innen konfrontiert. Eine fünfköpfige Familie wird Opfer eines Mordes und die Frau des Täters versucht zu verstehen, wie es so weit kommen konnte. Der Roman wurde im März 2022 bei Piper veröffentlicht.

Inhalt zusammengefasst

In dem französischen Bergdorf Carmac lebt Anna mit ihrem Mann Constant und ihren beiden Töchtern. Eines Tages zieht die fünfköpfige Familie Langlois gegenüber ein und die Familien freunden sich an. Sylvia und Bakary haben drei Kinder, ein teures Haus und drei Autos. Damit ziehen sie im Dorf auch Neider an. Anna und Constant aber sind fasziniert von ihren neuen Nachbarn und verbringen viel Zeit miteinander. Bis eines Tages die gesamte Familie Langlois ermordet wird. Der Täter ist Constant. Anna ist verzweifelt, fassungslos und versucht zu begreifen, was passiert ist und ob sie hätte die Tragödie verhindern können.

Wie war »Wenn unsere Welt zerspringt«?

Triggerwarnung: Der Inhalt kann (re)traumatisierend sein. 

Nicht umsonst habe ich oberhalb eine Triggerwarnung gesetzt, denn, die Handlung kann verstörend sein. Samira Sedira erzählt die Geschichte einer Nachbarschaft, einer sich anbahnenden Freundschaft, die in einer Katastrophe mündet. Spannend für mich war, dass die Autorin in diesem Fall die Frau des Täters, Anna, in den Mittelpunkt rückt und auf subtile Weise verdeutlicht, welche Last auch sie und ihre Töchter lebenslang tragen werden. Die Erzählung beginnt im Gerichtssaal und macht das ganze schreckliche Ausmaß deutlich. Der Angeklagte Constant, Ehemann von Anna, tut vor allem eines, er schweigt. Lediglich kurze und knappe Antworten lässt er zu, die Tat leugnet er nicht. Auf den nächsten Seiten springt Sedira in der Zeit. So werden die Geschehnisse vor der Tötung geschildert und versucht darzulegen, wie es zu dem grausamen Verbrechen kommen konnte. Es bleibt bei einem Versuch, denn niemand wird verstehen können, wie Constant so weit habe gehen können. Dennoch gelingt der Schriftstellerin auf sensible Weise ihren Leser:innen einen Zugang zum Täter zu gewähren, den fürchterlichen Verlust von fünf Menschenleben begreiflich zu machen und, vor allem das Kunststück, die Geschehnisse so zu beschreiben, dass jeder Figur Raum gegeben wird.

Doch leider sind Lieder endlich. Wenn sie unvermittelt verklingen, taucht die Brutalität der Welt wieder auf, und wir müssen ohne die Musik weitermachen. Denke ich heute an diesen Moment zurück, kommen mir die Tränen, und ich kann nicht umhin, ihn als Auftakt des Dramas zu erachten.

Seite 144

Ich habe die 176 Seiten in kurzer Zeit gelesen, was mir vor allem wegen der prosaischen Erzählweise möglich war. Denn inhaltlich ist die Handlung nichts für schwache Nerven, die Länge des Buches aber ist genau richtig. Die Silhouetten auf dem Cover und auf der Rückseite des Romans haben mich, mit dem Wissen, worum es geht, sehr berührt. Ein Mann tötet fünf Menschen. Zwei Erwachsene und ihre drei Kinder. Die Vorstellung ist schwer erträglich. Dass hier die Frau des Täters im Vordergrund steht und ihre Emotionen und ein Einblick ins Leben danach erläutert werden, zeigt für mich auch, das Samira Sedira mit »Wenn unsere Welt zerspringt« viel Mut bewiesen hat, sich dieser Perspektive anzunehmen. Automatisch sind es die Opfer, über deren Ableben wir trauern und die Verbliebenen, mit denen wir leiden. Die Familie des Täters kommt uns nicht primär in den Sinn. Hier erfahren wir von Annas Wut, ihrer Ohnmacht und ihrer Demütigung.

Der Schreibstil ist fesselnd und kraftvoll, er versprüht viel Einfühlungsvermögen. Sedira erreichte bei mir eine gute Vorstellung für ihr ausgewähltes Setting, ein französisches Bergdorf und seine Einwohner. Die offenbaren teils rassistische Ansichten, was sich beispielsweise in ihrem Unverständnis und ihrer Missgunst darüber ausdrückt, dass ein schwarzer Mann über einen höheren Lebensstandard verfügt als sein weißer Nachbar. Die Autorin spielt außerdem mit umgekehrten Klischees – so ist das Opfer in der Geschichte ein Dieb, während der Täter zuvor sein Opfer war. Mit viel Wucht und Emotionen beschreibt Sedira eine unfassbare Tat, die niemand für möglich gehalten hätte. Besonders wegen der Perspektive aus Sicht der Ehefrau des Mörders und seiner mächtigen Sprache, ist dieser Roman eine große Empfehlung, aber nichts für schwache Nerven.

Zitate aus dem Buch

»Niemals breitete er sein Wissen aus, und, was noch überraschender war, er konnte sich jedem anpassen, unabhängig von dessen Schulbildung oder sozialer Herkunft. Du konntest nicht entscheiden, ob das nun ein Pluspunkt oder eine Unzulänglichkeit war.« Seite 87

»Ich vertrieb diesen Zwischenfall aus meinen Gedanken, und umgehend verstreute sich meine Verwirrung, als hätte ich einen langen Holzsplitter unter dem Nagel herausgezogen.« Seite 121

»Den ganzen restlichen Abend über bliebst du nachdenklich. Wir saßen auf dem Sofa vor dem Fernseher, und mir fiel auf, dass nichts deine Aufmerksamkeit erlangen konnte.« Seite 127

»Ich presste mein Gesicht an deine Achsel und atmete deinen verschwitzten Geruch ein. Ganz tief. Das war dein Geruch, und es war nicht mehr dein Geruch. Ihm haftete etwas Bitteres an, als wäre er schlecht geworden.« Seite 134

»Und diese unvermittelte Freiheit ängstigt mich nicht etwa, sie befreit mich vielmehr von der erdrückenden Bürde meines Alltags. Ich habe sie ein paar Tage bei meinen Eltern gelassen. Ich habe keine Verantwortung mehr, keine Pflichten. Ich kann meinen Gefühlen freien Lauf lassen, ohne eine mütterlich-schützende Fassade aufrechterhalten zu müssen. Ich kann weinen, wenn mir danach ist. Mir kommen auch schon die Tränen, und ich unternehme nichts, um sie zurückzuhalten. Ich weine, hemmungslos, und schon allein die Tatsache, dass ich mein Schluchzen höre, macht mir klar, wie viel ich während der letzten Monate schweigend gelitten habe.« Seite 144

»Der ungerechte Tod eines unschuldigen Kindes lässt einen an der Existenz Gottes zweifeln…Kann man durch ihn an die Existenz des Teufels glauben? Nein. Wenn man gut darüber nachdenkt, dann ist Constant Guillot nicht der Teuffel, er ist sehr viel schlimmer, er ist ein gewöhnlicher Mann, der zu einem Fünffachmörder wurde.« Seite 156

»Wir sind oft strafbarer, als wir zu sein glauben.« Seite 173

Fazit

Ein packender und beeindruckender Roman, der auf subtile Weise menschliche Schwächen offenbart, mit Klischees spielt und ungewöhnlicherweise der Frau des Täters Gehör verleiht. Sprachlich mit Bravour gemeistert.

Samira Sedira

Samira Sedira, geboren 1964 in Algerien, ist eine algerische Schriftstellerin und Schauspielerin. In Frankreich, wo Sedira lebt, wurden viele ihrer Werke ausgezeichnet.


Wenn unsere Welt zerspringt

von Samira Sedira
aus dem Französischen von Alexandra Baisch
im Original erschienen unter dem Titel »Des gens comme eux«
Piper | 2022 | 176 Seiten
Hardcover mit Schutzumschlag | ISBN: 978 3 492 0710 7 | 20.00€
Zum Buch


Herzlichen Dank an Piper für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.

About Author

Ich (w, 36 Jahre) komme aus Berlin und lebe nach längeren Stationen in Hamburg und Freiburg nun in Wiesbaden. Ich mag Bücher und die Fotografie. Hier versuche ich beides miteinander zu vereinen.

4 Comments

  • Noëmi
    17. Juni 2022 at 2:00 pm

    Tönt nach einem sehr eindrücklichen Roman. Bestimmt richtig und gut, dass das Buch mit 176 Seiten nicht all zu lange ist, denn solch schwere Themen lassen sich in langen Schinken jeweils kaum aushalten, finde ich. Spannend, die Sicht auf die Familie des Opfers!

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    • Zeilentaenzerin
      17. Juni 2022 at 4:03 pm

      Das sehe ich ganz genauso, ja. Finde die Seitenanzahl angemessen und auch aushaltbar für diese doch schwere Thematik. Und die Perspektive ist in jedem Fall spannend.

      Reply
  • Livia
    5. Juli 2022 at 11:32 am

    Hallo liebe Zeilentänzerin

    Dich und dein Bücherregal würde ich ja definitiv sehr gerne einmal besuchen. Du haust gefühlt eine Empfehlung nach der anderen raus, die mich sofort neugierig macht, mit neuem Wunschlistenstoff versorgt und sicher auch früher oder später für ein paar Neuzugänge bei mir sorgen wird.

    Alles Liebe an dich
    Livia

    Reply
    • Zeilentaenzerin
      5. Juli 2022 at 2:17 pm

      Hallo liebe Livia, danke für das riesengroße Kompliment, das hat mir gerade den Tag versüßt, lieben Dank dir!

      Reply

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