Ich habe mal wieder ein – für meine Verhältnisse – etwas längeres Buch gelesen, was in diesem Fall bedeutet, dass es mehr als 400 Seiten hatte. Da werden viele Buchliebende nur müde lächeln, ich weiß, für mich aber ist das schon eine eher hohe Seitenanzahl, denn ich bevorzuge Bücher mit höchstens 300 / 350 Seiten. »Was wir wollen« von Meg Mason hat sich allemal gelohnt. Der Roman erschien im März 2021 im Ecco-Verlag. Die tragische Geschichte einer Frau auf der Suche nach sich selbst.
Inhalt zusammengefasst
Martha ist neununddreißig und hat augenscheinlich alles, was es zu einem zufriedenen Leben braucht. Sie ist mit Patrick verheiratet, den sie seit Kindheitstagen kennt und von dem sie weiß, dass sie ihm alles bedeutet. Sie hat ein enges Verhältnis zu ihrer Schwester Ingrid, mit der sie viel Zeit verbringt. Martha aber hadert immer wieder mit sich selbst und ihrem Leben im Allgemeinen. Deshalb glaubt sie schon lange, dass etwas mit ihr nicht stimmen kann. An ihrem vierzigsten Geburtstag kommt es zum Eklat und Patrick verlässt sie. Viel zu spät scheint Martha zu merken, was wirklich mit ihr los ist.
Wie war »Was wir wollen«?
Ich kann vorweg sagen, dass das Buch ganz anders war, als von mir zunächst angenommen. In diesem Fall ist das äußerst positiv, denn ich ging von einer Enddreißigerin aus, die mit ihrem Kinderwunsch hadert und vermutete folglich einen Roman, wie man ihn hier und da schon gelesen zu haben glaubt. Aber ich wurde definitiv überrascht. Meg Mason hat diese Geschichte mit viel Wortwitz, Feingefühl und großer Intelligenz geschrieben. Die Protagonistin Martha leidet an einer psychischen Erkrankung, die hier nicht namentlich benannt wird, deren Folgen den Leser:innen aber differenziert beschrieben werden. Ich mochte Martha unheimlich gerne und habe mit ihr mitgelitten und die eine oder andere Träne verdrücken müssen.
Die enge Bindung zu ihrer Schwester Ingrid ging mir sehr ans Herz, genau wie ihre tiefe Freundschaft zu Patrick, der später ihr Ehemann wird und sie unterstützt, wo er kann, obwohl besonders er unter der mentalen Erkrankung seiner Frau zu leiden hat. Da Martha aber selbst nicht weiß, was die Ursachen für ihre Aggressionen, ihre Ausbrüche und ihre Traurigkeit ist, verzweifelt sie zusehends und bringt ihr Umfeld mehr und mehr in Verlegenheit. Ihre Kindheit war geprägt von der Alkoholsucht ihrer Mutter, mit der sie und ihre Schwester sich fast schon abgefunden zu haben scheinen, welche besonders Martha aber auch für ihr späteres Erwachsenenleben prägte.
Es ist schwer, jemandem in die Augen zu blicken. Selbst wenn man die Person liebt, lässt sich dieser Blickkontakt nur mit Mühe aufrecht erhalten, weil man dabei das Gefühl hat, durchschaut zu werden. In gewisser Weise auch überführt.
Seite 199
Die Beschreibungen von Marthas Ehe, ihr fehlender Zugang zu ihren eigenen Gefühlen und die quälende Suche nach einem Grund dafür werden durch die gekonnten Schilderungen der Autorin sehr deutlich. Ich mochte die Figuren im Buch insgesamt unheimlich gerne. Neben ihrer Schwester Ingrid und ihrem Ehemann Patrick auch Marthas Vater und ihre Tante Windsome. Unheimlich bewegend war für mich das sich verändernde Verhältnis zu ihrer Mutter im Verlauf der Geschichte und auch ihre tiefe Verbindung zu Patrick, die immer wieder hervorgehoben wird. Die beiden habe ich so in mein Herz geschlossen. Der Schreibstil wie erwähnt ist wirklich brillant, weil er so klug, authentisch und berührend ist.
Trotz seiner Schwere würde ich »Was wir wollen« als Wohlfühlbuch beschreiben, weil es ungeachtet seiner Tragik und Ernsthaftigkeit so lebensbejahend und durchaus auch amüsant geschrieben ist. Das feine Gespür für Menschen und ihre Empfindungen ist Meg Mason durchweg anzumerken. Sie erweckt ihre Charaktere zum Leben und beweist bei deren Eigenschaften Mut und Scharfsinn. Ich bin sehr bewegt und zähle das Buch zu meinen Jahreshighlights. Ich hätte das halbe Buch markieren können, so zahlreich sind die enthaltenen wertvollen Textstellen. Eine riesengroße, fett unterstrichene Leseempfehlung von mir.
Zitate aus dem Buch
»Später, als die Pubertät uns beide im Griff hatte, bemerkte unsere Mutter einmal, da Ingrid die deutlich größere Menge Busen habe, könnten wir nur hoffen, dass ich am Ende mehr Hirn abbekäme. Wir fragten sie, was von beidem besser sei. Sie erwiderte, es sei besser, beides oder keins davon zu habe, das eine ohne das andere sei jedoch fatal.« Seite 11
»Rückblickend hat meine Mutter sie vermutlich selbst nicht gekannt – das Ziel ihrer Partys schien es zu sein, das Haus mit außergewöhnlichen Fremden zu füllen und vor diesen selbst außergewöhnlich zu wirken, und nicht jemand zu sein, der über einem Schlüsseldienst wohnt. Es genügte ihr nicht, für uns drei außergewöhnlich zu sein.« Seite 31
»Alles tat mir weh. Meine Fußsohlen, meine Brust, mein Herz, meine Knochen, meine Lunge, meine Kopfhaut, meine Fingerknöchel, meine Wangenknochen. Es tat weh, zu sprechen, mit anderen Menschen in einem Raum zu sein und allein zu sein. Ich blieb lange dort stehen und spürte manchmal, wie der Balkon sich im Wind bewegte. Normale Menschen sagen: Ich kann mir nicht vorstellen, mich so schlecht zu fühlen, dass ich tatsächlich sterben möchte. Ich versuche dann gar nicht erst ihnen zu erklären, dass es nicht so ist, dass man sterben möchte. Es ist so, dass man weiß, dass man nicht am Leben sein sollte, dass man eine Müdigkeit verspürt, die die Knochen umhüllt, eine Müdigkeit voller Angst. « Seite 55
»Das Schlimmste, was Patrick jemals zu mir gesagt hat, ist: Manchmal frage ich mich, ob du nicht eigentlich gern so bist.« Seite 55
»Es war nur ein langer Tag voller Männer, die mich einmal geliebt und dann damit aufgehört haben, oder einmal dachten, sie würden mich lieben, um dann festzustellen, dass sie nur Hunger hatten oder was auch immer.« Seite 140
»Die Deutschen haben ein Wort für ein gebrochenes Herz, Martha. Liebeskummer. Klingt das nicht scheußlich?« Seite 145
Fazit
Selten konnte ich mich so sehr mit einer Protagonistin identifizieren wie hier mit Martha. Ein unglaubliches, ein so einnehmendes und intelligentes Buch, das die Seele streichelt.
Meg Mason
Meg Mason, geboren in Neuseeland, ist eine neuseeländische Schriftstellerin und Kolumnistin. Sie arbeitete zunächst in London für die Times und die Financial Times und schrieb dort insbesondere über Themen wie Lifestyle, Selbstbestimmung und Elternschaft. Inzwischen schreibt sie als Kolumnistin für diverse Zeitungen. Mason lebt mit ihrem Ehemann und ihren beiden Töchtern in Sydney.
Was wir wollen
von Meg Mason
aus dem Englischen von Yasemin Dinçer
im Original erschienen unter dem Titel »Sorrow And Bliss«
Ecco | 2022 | 432 Seiten
Hardcover | ISBN: 978 3 7530 0003 9 | 22.00€
Zum Buch
Ich danke dem Ecco-Verlag sehr herzlich für das mir zur Verfügung gestellte Leseexemplar.
Livia meint
Hallo liebe Zeilentänzerin
Das klingt ja wirklich wundervoll, wow… Das Buch ist gleich vorgemerkt. Und du hast ja wirklich wunderschöne Zitate ausgewählt.
Alles Liebe an dich
Livia
Zeilentaenzerin meint
Danke, liebe Livia!
Marie meint
Liebe Zeilentänzerin,
das klingt ja wundervoll! Ich freue mich mit dir, dass du so ein Highlight gelesen hast. Eine sehr schöne Rezension.
Liebe Grüße
Marie
Zeilentaenzerin meint
Hey Marie, danke dir! Ich freue mich über deine lieben Worte!